Nachtmahre
von Merith Thorin
Eigentlich war alles wie immer. Jörg Rastner
saß im Wohnzimmer und starrte auf das halbvolle Bierglas. Oder war es halbleer?
Diese Frage fand er blöd. Ihn interessierte nur, dass das Bier nicht schmeckte.
Außerdem war es spät und er war hundemüde. Es wurde Zeit, mal wieder richtig
lange auszuschlafen. Dazu war er schon mehr als eine Woche nicht gekommen.
Immerhin, trotz der schlechten Geschäfte hatte es heute ein kleines
Erfolgserlebnis gegeben. Rastner lächelte zufrieden.
Er war Geschäftsmann. So
behauptete er es wenigstens von sich. In Wirklichkeit war er ein Gauner. Und
nicht einmal ein besonders erfolgreicher. Seit Jahren wurstelte er sich mit Geschäften
am Rande der Legalität – und oft auch außerhalb dieser – durchs Leben und
schwamm dabei von Pleite zu Pleite. Er ließ jedoch nie eine Gelegenheit aus,
sich lautstark und wortreich als Opfer seiner unzuverlässigen Partner darzustellen.
So hatte er es auch irgendwie immer geschafft, einer Verurteilung wegen
Betruges oder ähnlicher Delikte zu entgehen. Nicht, dass sie es nicht versucht
hätten. Oh nein. Ein zweites Lächeln huschte über sein Gesicht. Es war zynisch
und erreichte seine Augen nicht.
Dummerweise hatte er den
Fehler begangen, seinen eigenen Geschichten zu glauben. In der festen
Überzeugung, ein hervorragender und cleverer Geschäftsmann zu sein, hatte er
sich in sein neuestes Abenteuer gestürzt. Ohne Partner. Die Sache drohte schief
zu gehen. Rastner rang seit geraumer Zeit mit dieser
Erkenntnis, doch seine Versuche, das Schlimmste zu verhindern waren bislang
erfolglos geblieben. Trotzdem war heute ein guter Tag gewesen.
Es war ihm gelungen,
eine etwas lästige Gläubigerin abzuwimmeln. Unfreundlich und vorwurfsvoll hatte
er zunächst auf ihre Nachfrage reagiert. Das zog immer bei der Thieme. Obwohl
er ihren Ärger spürte, hatte sie nie versucht, ihre Forderungen nachdrücklich
oder gar aggressiv vorzutragen. Sie war, wenn auch nicht freundlich, so doch
stets höflich geblieben. Auch heute hatte sie seine leeren Versprechungen
kommentarlos angehört und dann aufgelegt.
Rastner war sicher, dass er
jetzt mindestens drei Wochen Ruhe vor ihr hatte. Vorher würde sie sich bestimmt
nicht melden. In dieser Zeit konnte viel passieren und bis dahin würde ihm
sicher wieder etwas einfallen, womit er sie ruhig stellen konnte. Sie hatte ihm
alles überlassen, was sie besaß. Zu dumm, dass das Geld schon wieder weg war.
Ein solches Sümmchen konnte er momentan wirklich gut gebrauchen. Diesmal stand
allein sein Name auf allen Papieren, seine Unterschrift auf den Verträgen. Wie
sollte er nur jemanden auftreiben, dem er die Schuld zuschieben konnte?
Unwillig schüttelte er
den Kopf. Bloß nicht zu schwarz sehen! Schließlich war noch nicht alles verloren.
Wenn alles gut ging würde er nächste Woche wieder gut kassieren. Die Frau war
mindestens so vertrauensselig wie die Thieme. Wenn nicht gar noch mehr. Leider
hatte sie nicht so viel Erspartes, aber im Moment musste er nehmen, was er
kriegen konnte.
Mit einem Ruck erhob er
sich. Das Glas blieb stehen wo es war. Eigentlich hatte er es noch in die Küche
schaffen und ausgießen wollen. Aber jetzt hatte er keine Lust mehr dazu. Im Bad
stieg er aus seinen Sachen und griff nach dem Schlafanzug, der noch auf dem
Berg Schmutzwäsche lag, wo er ihn am Morgen achtlos hingeworfen hatte. Rastner mochte sein Singleleben. Nur in Momenten wie diesen,
dachte er, wie praktisch es wäre eine Frau zu haben, die sich um solche Sachen
wie Wäschewaschen und schmutzige Gläser kümmerte. Aber dann fiel ihm ein, dass eine
solche Frau auch von ihm immer irgendwas erwartete. Und dann kümmerte ihn die
Wäsche plötzlich nicht mehr.
Es dauerte geraume Zeit
ehe er einschlafen konnte. Unruhig wälzte er sich von einer Seite auf die
andere, bis er endlich wegzudämmern
begann. Einen Moment glaubte er noch, ein Geräusch an der Wohnungstür zu hören.
Doch dann wurde die Müdigkeit übermächtig und der Schlaf übermannte ihn.
*
„Hoch mit dir du
erbärmliche Ratte!“
Dem gebrüllten Kommando
folgte ein Fußtritt. Rastner fuhr mit einem Aufschrei
zurück. Es war stockdunkel. Kein Lichtschein erhellte den Raum. Normalerweise
fiel immer etwas Licht von den Straßenlaternen durch die Jalousien in sein
Schlafzimmer. Füßescharren ertönte
merkwürdig laut und nah. Er wollte zurückweichen, doch ein hartes, kaltes
Hindernis versperrte ihm den Weg. Dann sah er endlich etwas. Ein schwacher
Feuerschein flackerte auf und ab und wurde im Takt weiterer Schritte immer
heller.
„Na endlich!“, dröhnte die
Stimme wieder. „Steh schon auf, du Sohn einer stinkenden Hure!“
&xnbsp;Der Mann, der das sagte, stank selbst bis zum Himmel. Im
Schein einer Fackel, die jemand in der niedrigen Tür hielt, konnte Rastner ihn sehen. Er trug ein weites, altmodisches Hemd,
das ihm über die Oberschenkel reichte und eine fleckige Hose, die auch irgendwie
unförmig wirkte. Dazu hatte er ein gestepptes Wams an, das mit vielen Schnüren
versehen, aber nur nachlässig geschlossen war. Am Gürtel hing
ein Beutel und ein unglaublich großer Schlüsselbund. Eine ausgebeulte Mütze
vervollständigte die Erscheinung.
Ein weiterer Fußtritt
traf Rastner’s Rippen und endlich hatte er sich von
seinem Schock erholt.
„He, was soll das! Sind
sie noch ganz bei Trost! Ich werde ...“
Urplötzlich hatte der
Mann einen Stock in der Hand und Rastner quer über
den Schädel gezogen. Der Schmerz verschlug ihm die Sprache. Einen Moment
glaubte er, die Besinnung zu verlieren. Stattdessen wurde er auf die Füße
gezogen und aus der winzigen Zelle bugsiert. Erst jetzt bemerkte er, dass er
Ketten an Händen und Füßen hatte. Von dem Schläger grob angetrieben trippelte
und hüpfte er einen schmalen und ebenfalls nahezu finsteren Gang entlang. Vor
ihm trug ein anderer Mann die Fackel und erhellte so den Weg.
Was zum Teufel war
eigentlich passiert? Rastner versuchte verzweifelt,
sich zu erinnern, wie er hergekommen war und vor allem warum. Doch es wollte
ihm beim besten Willen nicht einfallen. Ihm blieb auch keine Zeit, weiter
darüber nachzudenken, denn sie waren an einer Treppe angekommen. Sie war steil
und die Ketten an seinen Füßen erlaubten ihm mit knapper Not, die einzelnen
Stufen zu erklimmen. Von dem Quälgeist in seinem Rücken ohne Rücksicht zur Eile
getrieben, trat ihm bald Schweiß aus den Poren, der sich in der kalten Luft
schnell wie ein klebrig-feuchter Film auf seine Haut legte.
Am oberen Ende der
Treppe weitete sich der Raum. Rastner, der nie unter
Platzangst gelitten hatte, war in der Enge der er eben entronnen war, klar
geworden, wie sich das anfühlen musste. Hier oben spendeten mehrere Fackeln
gelb flackerndes Licht. Dennoch waren viele Ecken in tiefes, undurchdringliches
Schwarz getaucht. An grob gezimmerten Holztischen saßen ein paar Männer, die
ähnlich gekleidet waren, wie seine Begleiter. Sie würfelten und tranken aus
Holzbechern. Um die Neuankömmlinge und ihren Gefangenen kümmerte sich niemand.
„Los weiter!“
Ein harter Stoß in
seinen Rücken warf ihn fast von den Füßen. Mühsam um sein Gleichgewicht ringend
stolperte er vorwärts. Sie verließen den Raum und passierten wieder dunkle
Gänge. Die Wände waren wie alles was er bisher gesehen hatte aus großen
Steinblöcken gefügt und mit Mörtel verputzt. Es war genauso kalt wie unten im
Kerker, nur stank es nicht mehr ganz so erbärmlich. Nachdem sie einige Male
abgebogen waren, betraten sie einen Bereich, der wesentlich sauberer aussah.
Die Wände waren mit Vorhängen und Teppichen bedeckt. Unter verhangenen Fenstern
waren Steinbänke eingelassen, die mit Kissen ausgepolstert waren. In kleinen
Wandnischen standen Heiligenbilder und Kreuze. Frauen in langen Gewändern und
mit Kopftüchern huschten geschäftig vorbei. Keine Frage, Rastner
war in einer Burg gelandet. Es stellte sich allerdings die Frage, wer einen solchen
Aufwand betrieb, nur um ihm Angst einzujagen.
Inzwischen hatte er
seinen verwirrten Verstand mit der Erklärung beruhigt, dass es sich nur um einen
groben Scherz handeln konnte. Den nagenden Zweifel bei diesem Gedanken,
versuchte er zu ignorieren. Hinter der nächsten Ecke wurde es heller. Die Wände
waren noch etwas reicher geschmückt. Eine Reihe von Fackeln sowie ein paar
Öllampen brannten an beiden Seiten des Ganges. Zwei altertümlich uniformierte
Männer mit langen, gut geschärften Hellebarden bewachten eine große,
zweiflügelige Tür. Rastner versuchte sich zu erinnern,
zu welchem Jahrhundert die Kleidung gehörte. Doch er kannte sich nicht genug
aus, um auch nur eine Vermutung anzustellen. Mittelalter, nur soviel stand fest.
„Der Gefangene zum
Gericht seiner Durchlaucht.“, sagte der Stockschwinger zu einem der Wachleute.
Dieser nickte und stieß die Tür auf.
Wenn Rastner
geglaubt hatte, dass man ihn lachend empfangen und das Ganze als Scherz
aufklären würde, dann wurde er aufs Schwerste enttäuscht. Der hell erleuchtete
und deutlich wärmere Raum, war bis auf wenige Personen leer. Und niemanden der
Anwesenden kannte er.
Die offensichtliche
Hauptperson saß auf einem reich verzierten, leicht erhöhten Stuhl mit hoher,
rotsamtig gepolsterter Lehne. Der Mann war etwa Anfang fünfzig und in einen mit
Pelz besetzten und Gold bestickten Mantel gehüllt. Juwelen blitzten an seinen
Händen, an der wuchtigen Goldkette auf seiner Brust und an der blauseidenen
Kappe auf seinem Kopf. Seine Füße steckten in weichen Lederstiefeln. Bei deren
Anblick wurde Rastner sich schlagartig bewusst, dass er
selbst barfuß war. Seine Füße hatten von dem eiskalten Steinfußboden bereits
eine bläuliche Färbung und ein heftiges Zittern ging durch seinen ganzen
Körper. Noch viel verstörender war die Tatsache, dass er seinen Pyjama, in dem
er zu Bett gegangen war, nicht mehr trug. Stattdessen war er in ein
verschlissenes Hemd und eine Hose aus grobem Stoff gekleidet, deren Schnitt dem
der Kleidung des Kerkermeisters ähnlich war.
Noch während er mit
wachsender Panik darüber nachdachte, wer – und vor allem wie jemand – ihn ohne
sein Wissen aus- und wieder ankleiden konnte, öffnete sich die Tür. Mit einem
erneuten Stoß wurde er hart zur Seite geschoben. Sechs weitere Gefangene wurden
herein geführt. Sie waren genauso gefesselt wie Rastner.
Ihre Gesichter unter verfilzten Bärten waren blass, die Augen der meisten blutunterlaufen.
Allesamt steckten sie in zerlumpten Kleidern und stanken noch schlimmer als der
Mann der ihn aus der Zelle geholt hatte. Rastner sah
Blutergüsse, zerschlagene Nasen, frisch geplatzte Brauen und Lippen. Außerdem
Verstümmelungen an Ohren und Nasen, die älter sein mussten, da sie teilweise
verheilt waren.
Ein Mönch mit Tonsur und
in schwarzer Kutte saß an einem Tisch neben dem hohen Stuhl und schrieb eifrig.
Das kratzende Geräusch der Feder auf dem Pergament jagte Rastner
kalte Schauer über den Rücken.
„Durchlaucht, die
Räuberbande von Hannes, dem Roten.“, sagte ein gut gekleideter Mann an der Seite
des Fürsten.
„Ah, habt ihr sie
endlich. Ein Segen, dass wir uns dieser Plage endlich entledigen können.“
Rastner sah fassungslos, wie
der Mann genüsslich aus einem Silberbecher trank. War das die ganze
Verhandlung?
Wohl doch nicht. Der
Vertraute des Fürsten zählte eine Reihe scheußlicher Verbrechen auf, die von
der Bande begangen worden waren. Die Wichtigsten waren Raub, Mord und
Teufelsanbetung. Niemand fragte die Gefangenen nach ihrer Sicht der Vorwürfe.
Und keiner von ihnen schien sich für den Verlauf der Handlung zu interessieren
oder auch nur an ihrem Ausgang zu zweifeln.
„Sie werden morgen früh
im Burghof aufgehängt. Sonst noch was?“, wollt der Fürst beiläufig wissen.
„Ja, Durchlaucht. Der
Räuber, der die Witwe des Dorfschulzen überfallen, beraubt und ... hmh ... entehrt hat.“ Der Edelmann machte eine Winkbewegung, worauf eine Frau nach vorn trat. Rastner sog vor Schreck geräuschvoll die Luft ein und
verschluckte sich prompt als er sie sah. Die Thieme! Hustend und mit tränenden
Augen starrte er sie an. Der Versammlung und vor allem dem Fürsten war seine
Reaktion nicht entgangen.
„Sprich Frau! Was hat er
dir getan?“, forderte der Edelmann.
„Mein Erspartes hat er
mir genommen, alles was ich von meinem Mann geerbt habe!“ Ihre Stimme zitterte
vor Aufregung und sie musste sich schnäuzen. Rastner
begann an seinem Verstand zu zweifeln. Was machte die Thieme hier? Oder war sie
es gar nicht? Eine weiße Haube verbarg ihre Haare vollständig, so dass deren
Farbe nicht zu erkennen war. Auch trug sie keine Schminke. Es konnte sein, dass
sie ihr nur ähnlich sah. Die Stimme war auch nicht klar auszumachen. Die Frau
dort vorn sprach leise und unsicher. Wie die Thieme auch manchmal. Aber war es
dieselbe Frau?
„Und dann?“, schaltete
sich der Fürst ein. Die Frau wurde rot und zögerte. Hilfesuchend sah sie den
Mönch an. Doch der wartete unbeeindruckt auf ihre Antwort, die Feder schwebte
erwartungsvoll über dem Pergament.
„Er hat sich an mir
vergangen.“, sagte sie so leise, dass man es kaum hörte. Doch alle waren mucksmäuschenstill
gewesen und so war es niemandem entgangen.
„Nein! Das ist ein
Irrtum! Ich ...“
Bei Rastner’s
Protest drehte sich der Kerkermeister mit funkelnden Augen zu ihm und erstickte
jedes weitere Wort mit ein paar gut gezielten Hieben.
„Nein.“, hauchte er mit
letzter Kraft, als er das Wort „aufhängen“ aus dem Mund des Fürsten hörte. Dann
wurde er mit den übrigen Gefangen aus dem Raum gezerrt und zurück in den Kerker
gebracht.
Den Rest der Nacht
verbrachte er in schlaflosem Entsetzten. Das durfte
nicht wahr sein! Es war unmöglich! Er konnte gar nicht hier sein! Schmerzen,
Kälte und Gestank machten jeden Versuch zunichte, sich einzureden, dass alles
nur ein fürchterlicher Albtraum war und er jeden Moment aufwachen würde. Seine
Leidensgenossen waren da weitaus realistischer. Apathisch oder gleichgültig
starrten sie vor sich hin. Sie nahmen ihr Ende als unabwendbar hin und quälten
sich nicht mit unsinnigen Hoffnungen. Als sich die Zellentür öffnete, rutschte
ihm das Herz in die Hose. Doch es war nur der Mönch, der den Sündern die letzte
Beichte abnahm. Alle konnten danach auf Vergebung vor dem Allerhöchsten hoffen.
Nur Rastner würde mit Sicherheit zur Hölle fahren.
*
Der Morgen war kalt,
grau und feucht. Die sieben Delinquenten überquerten den Hof in einer Reihe.
Nur Rastner musste immer wieder mit Stößen und
Stockschlägen weiter getrieben werden. Seine verzweifelten
Unschuldsbeteuerungen verhallten wirkungslos.
Viel Volk hatte sich
eingefunden. Bei einer Hinrichtung war immer etwas los. Die Menge der Mägde und
Knechte, der Bauern, Flussfischer und Handwerker summte erwartungsvoll. Ein
paar fahrende Gaukler vertrieben ihnen die Zeit mit derben Späßen und
gespielten Hinrichtungen. Der Henker prüfte gerade den letzten der sieben
Stricke, die an dem Querbalken auf der Hinrichtungsplattform hingen. Eine
Holztreppe führte die knapp eineinhalb Meter zum Podest hinauf. Unter lautem
Johlen, Beschimpfungen und Handgreiflichkeiten wurden die Verurteilten hinauf
geführt. Rastner’s Beine drohten ihm den Dienst zu
versagen. Irgendwie fand er sich schließlich doch auf dem Galgen wieder. Als
die Helfer des Henkers begannen, die Schlaufen der Stricke den Räubern um den
Hals zu legen, übermannte ihn erneut die Panik.
„Ich bin unschuldig!“,
schrie er und machte einen verzweifelten Satz in Richtung Treppe. Seine Beine
waren zwar nicht mehr gefesselt, aber seine Hände schon. Die vergangenen
Stunden der Misshandlung, Kälte und Hunger hatten ihm arg zugesetzt. Das Adrenalin
in seinem Körper reichte nicht aus, seine Schwäche zu überwinden. Seine
Bewegungen waren unbeholfen und zu allem Übel stand der Werkzeugkasten des Henkers
im Weg. Der scharfe Schmerz in seinem Schienbein entriss ihm einen jaulenden
Schrei bevor er mit einem dumpfen Laut auf den Holzplanken aufschlug. Für ein
paar Sekunden war ihm schwarz vor Augen. Dann wurde er grob gepackt und wieder
aufgerichtet. Der Henker musste ihn förmlich an den für ihn bestimmten Platz
unter dem Galgen zerren.
Die Menge grölte und
amüsierte sich prächtig. Ungläubig starrte er auf die versammelten Menschen
hinunter. Diese … Bestien! … warteten geradezu gierig darauf, dass in ein paar
Augenblicken sieben Menschen vor ihren Augen erhängt würden! Plötzlich riss ihn
etwas aus seiner Fassungslosigkeit. In der vordersten Reihe hatte er ein
bekanntes Gesicht gesehen. Die Thieme! Sie starrte ihm direkt in die Augen.
„Ich bin unschuldig. Sagen
Sie’s ihnen! Sagen Sie’s doch, um Gottes willen!“ Die Frau kniff die Augen
zusammen und verzog den Mund zu einem triumphierenden Lächeln. Und da begriff
er. Sie wollte ihn hängen sehen.
*
Das Seil war schwer und
kratzig. Sie zogen den Knoten fest und obwohl er noch auf beiden Beinen stand,
hatte er bereits das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen. Zu seinem großen
Entsetzen begann sein Darm zu rebellieren. Er hatte irgendwann mal gelesen,
dass den Verurteilten im Moment des Todes jeglicher Muskel im Leib erschlaffte.
Auch Blase und Schließmuskel. Diese Vorstellung verursachte ihm noch mehr
Übelkeit. Dann sah er, dass sämtliche Helfer den Galgen verlassen hatten. Der
Henker stand an der Seite und hatte die Hand an einem Hebel.
„Diese Männer sind der
schlimmsten Verbrechen schuldig. Sie haben gemordet, geraubt und den verbotenen
Teufelsritualen gehuldigt.“, der Edelmann von der Verhandlung stand neben dem
Galgen und verkündete das Urteil. Ein Laut des wohligen Schauers ging durch die
Menge.
„Unser hochedler Fürst
hat in seiner unendlichen Weisheit sein Urteil gefällt.“
Eine Kunstpause erhöhte
die Spannung.
„Tod durch Hängen!“
Die Worte wurden
gefeiert wie ein WM-Sieg der deutschen Fußballmannschaft. Dann wurde es
schlagartig ruhig. Rastner schloss die Augen und
wimmerte immer und immer wieder „nein, nein, nein“. Dann hing er in der Luft.
Der Strick zog sich enger, doch er hatte ihm nicht das Genick gebrochen. Seine
Füße zappelten heftig, sein Mund schnappte nach Luft und doch konnte er nicht
atmen. Seine Lunge begann zu schmerzen und der Druck um seinen Hals drückte
seine Zunge nach vorn. Das dumpfe Gefühl in seinem Kopf nahm zu. Er spürte noch
etwas warm und feucht seine Beine entlang laufen. Dann wurde es schwarz.
*
Mit einem Keuchen fuhr
er hoch. Gierig sog er die Luft ein. Panisch tastete er nach seinem Hals. Sogar
seine Füße zappelten noch im Todeskampf. Es dauerte eine Ewigkeit bis er
begriff wo er war. Auf dem Bett in seinem Schlafzimmer. Ein Auto fuhr vorbei
und das vertraute Geräusch holte ihn aus seiner Schockstarre.
Ein Traum! Alles nur ein Traum.
„Und er wird
wiederkommen. Jede Nacht.“ Die Worte ertönten in einem heiseren Flüstern.
Erschrocken zuckte er zusammen. Erst jetzt bemerkte er, dass noch jemand im
Zimmer war. Nur ein dunkler Schatten. Doch den kannte er. Es war die Witwe des
Dorfschulzen. Nein, es war die Thieme.
„Was ... wie ...?“,
stammelte er.
„Bis ich mein Geld
wieder habe. Oder Sie im Gefängnis sitzen.“
„Aber ich ...“ Der
Protest erstickte in Rastners Hals als er blinzelte
und die Schattengestalt verschwunden war.